Prima A: Lektion

22 T Ein Götterspruch aus Delphi

Nach der vernichtenden Niederlage der Römer gegen Hannibal bei Kannä im Jahre 216 v. Chr. (vgl. 13 T) gerieten die Römer in Panik. Sie konnten sich die Katastrophe nur damit erklären, dass sich die Götter von Rom abgewandt hätten. Verschiedene Ereignisse des vorangegangenen Jahres wurden nun im Nachhinein als böse Vorzeichen gedeutet; wenn man nur aufmerksamer gewesen wäre, hätte man gewarnt sein müssen – so glaubte man. Der Senat beauftragte einige Männer, die verschiedenen Prophezeiungen auszuwerten. Ja sogar vom berühmten griechischen Orakel des Apollo in Delphi erwartete man einen Ratschlag in dieser schlimmen Situation:

Wir wissen, dass die Senatoren Quintus Fabius Pictor mit einer gesandschaft nach Delphi geschickt haben. Senatores Quintum Fabium Pictorem cum legatione Delphos misisse scimus.
Nachdem dieser in den Tempel eingetreten war(!), fragte er die Priester: Qui postquam templum intravit, intus sacerdotibus interrogavit:
Wie werden wir die Götter besänftigen? Wann werden die Götter endlich ein Ende der Mißgeschicke (des Unheils) machen? „Quomodo1 deos placabimus2? Quando dei tandem calamitatum finem facient?“
Und Phythia gab einen Schicksalsspruch. Aber die Gesandten der Römer haben die Stimmen (Worte) der Pythia nicht verstanden. Et Pythia sortem dedit. Sed legati Romanorum voces Pythiae non intellexerunt.

Daraufhin deuteten die Priester des Apollotempels die Worte der Pythia: Sie nannten dem Abgesandten verschiedene Götter und Göttinnen, denen die Römer einen Bußgottesdienst halten und Geschenke darbringen sollten. Der Tempelvorsteher befahl ihm, mit einem Lorbeerkranz geschmückt nach Rom zurückzufahren und diesen Kranz auf dem Altar des Apollotempels in Rom niederzulegen. Quintus Fabius versprach dies zu tun und opferte noch in Delphi den genannten Göttern, um diese günstig zu stimmen.

Dann kehrte Quintus nach Rom zurück und erstattete den Senatoren in dr Kurie Bericht: Tum Quintus Romam rediit et senatoribus in curia nuntiavit:
"Euch, Römer, werde ich das (diese Dinge -> Pl.n.!), was die Priester geantwortet haben, sagen: „Vobis, Romani, dicam ea, quae sacerdotes responderunt:
Besänftigt die Götter mit Bitten und Opfern! Wenn nämlich die Götter uns helfen, werden wir sicher sein, ja die Römische Bürgerschaft wird sogar mehr Macht haben und die Punier besiegen; der Sieg wird dem Römischen Volk gehören (sein). Deos placate suppliciis ac sacris! Si enim dei nobis aderunt, tuti erimus, immo vero civitas Romana multum valebit et Poenos superabit; victoria populo Romano erit.
So werden wir die Römische Bürgerschaft bewahren (retten). Ita civitatem Romanam servabimus.
Dann müsst ihr, Römer, dem Pythischen Apollon aus der Beute einen Anteil (Geschenk) überlassen (schicken). Tum vos, Romani, Pythio Apollini e praeda donum mittere debetis.
Haltet dennoch den Übermut von euch fern! Andernfalls werden die Götter euch verlassen. Tamen superbiam a vobis prohibete! Aliter dei vos deserent.
Dies (Pl. n!) hat Pythia gesagt, wie die Priester des Apollon versichert haben. Quae dixit Pythia, ut sacerdotes Apollinis confirmaverunt.
Ich aber ging aus dem Orakel hinaus und habe sofort allen Göttern. die die Priester genannt hatten, ein Opfer gebracht (gemacht). Ego autem ex oraculo exii et statim omnibus deis, quos sacerdotes dixerant, sacrum feci.
Einer von den Priestern hatte vorher mein Haupt mit einem Kranz geschmückt. Unus e sacerdotibus antea caput meum corona3 ornaverat.
Diesen Kranz werde ich nun in unseren Tempel des Apoll bringen und dort auf dem Altar niederlegen." Quam coronam nunc in nostrum templum Apollinis portabo eiusque in ara deponam.“
Die Senatoren bechlossen: "Wir werden alle Opfer sofort mit großer Sorgfalt bringen." Senatores statuerunt: „Nos omnia sacra statim magna cum cura faciemus.“

1 quōmodo wie? – 2 plācāre beschwichtigen – 3 corōna Kranz


22 Z König Krösus missversteht ein Orakel

Krösus, der König der Lydier glaubte, dass er der glücklichste aller Menschen ist. Croesus, rex Lydorum1, se esse beatissimum2 omnium hominum putabat.
Denn er hatte viele und große Gebiete besiegt. Nam multas et magnas regiones vicerat.
Dennoch hatte der Philosoph Solon, der einst Gast des Krösus gewesen war, dem König gesagt: Tamen Solon philosophus3, qui aliquando4 hospes Croesi fuerat, regi dixerat:
"Niemand ist vor seinem Tod glücklich." „Nemo ante mortem beatus5 est.“

Das wiederum hatte Krösus, der über sagenhaft großen Reichtum verfügte, dem Gast nicht glauben wollen. Vielmehr vergrößerte er durch weitere Eroberungen seine Macht.

Krösus fürchtete noicht einmal die Macht (Kräfte) der Perser, die Nachbarn der Lydier waren. Croesus ne Persarum6 quidem7 vires timebat, qui erant Lydorum propinqui:
"Ich werde die Perser besiegen. Vorher aber werde ich befehlen, dass Gesandte Delphie aufsuchen und zu Pythia hingehen. „Persas vincam. Antea autem legatos Delphos petere et Pythiam adire iubebo.“
Und Pytha antwortete: " Wenn du den Fluß Halyn überschreiten wirst, wirst du ein großes Königreich zerstören. Et Pythia respondit: „Si Halyn fluvium8 transibis, magnum regnum delebis9.“
Krösus freute sich sehr über diese Worte; denn er dachte: Croesus iis verbis gaudebat; nam cogitabat:
"Wenn ichden Halys überschreiten werde, werde ich die Perser besiegen." „Si Halyn transibo, Persas vincam.“
Deshalb rief er seine Soldaten zusammen und überschritt mit ihnen den Fluß Halys und begann eine Schlacht mit den Persern. Itaque milites convocavit et cum iis Halyn fluvium transiit et proelium cum Persis iniit.
Aber die Perser besiegten die Truppen der Lydier schnell. Sed Persae copias Lydorum celeriter superaverunt.
Sie führten Krösus als gefangenen zu Cyrus, dem König der Perser. Croesum captivum ad Cyrum, regem Persarum, duxerunt.
Cyrus befahl, dass seine Soldaten den Krösus in die Flammen geben. Cyrus milites suos Croesum flammis10 dare iussit.
Da verstand Krösus die Worte der Pythia: Tum Croesus verba Pythiae intellexit:
Er hatte sein eigenes Königreich zerstört, nachdem er den Fluß Halys überschritten hatte (!). Regnum suum deleverat, postquam Halyn fluvium transiit.
Und sein Schicksal schmerzte ihn, weil er erkannte: Et fortunam suam doluit, quia cognovit:
Niemand ist vor seinem Tod glücklich. Nemo ante mortem beatus est.

1 Lydī, ōrum die Lydier – 2 beātissimus der glücklichste – 3 philosophus: vgl. Fw. – 4 aliquandō einmal – 5 beātus glücklich – 6 Persae, Persārum m die Perser – 7 nē … quidem nicht einmal – 8 Halys (Akk. Halyn) fluvius Fluss Halys (kleinasiatischer Grenzfluss zwischen Lydien und Persien) – 9 dēlēre (Perf. dēlēvī) vernichten – 10 flamma: vgl. Fw. flammīs dare: vgl. dazu das Vasenbild