prima A. Lektionstexte 31

31 T Phädra zwischen Vernunft und Wahnsinn

Phädra ist die zweite Frau des Theseus, des Königs von Athen. Als Theseus längere Zeit fort ist, verliebt sich Phädra leidenschaftlich in Hippolytos, den Sohn des Theseus aus erster Ehe, also ihren Stiefsohn. Dieser ist ein zurückhaltender, aber auffallend schöner junger Mann, der sehr naturverbunden ist und gern auf die Jagd geht. Aus Frauen macht er sich jedoch noch gar nichts. Phädra hingegen wird sich ihrer Verwirrung immer stärker bewusst – sie kann doch nicht dieser Liebe nachgeben! Als sie auch noch ihre Heimat Kreta zu vermissen beginnt, schaltet sich Phädras alte Amme ein:

Paedra: Oh großes Kreta, Herrin des weiten Meeres: warum zwingst du mich ein Leben in Übel und Tränen zu führen? PHAEDRA: O magna Creta, domina maris vasti: Cur me vitam in malis lacrimisque agere cogis?
Nun bin ich hier allein, weil Theseus weg ist und seiner Frau nicht die Treue erweist. Nunc sola hic sum, quia Theseus abest neque fidem praestat uxori.
Aber dennoch ersehne ich die Rückkehr des Ehegatten. At tamen ego adventum mariti desidero.
Denn Tag und Nacht wächst und brennt ein Übel, das mich heftig beunruhgt: meine Arbeiten auf mich zu nehmen und die Götter mit Geschenken zu verehren gefällt mir nicht mehr, sondern immer will ich in den Wäldern und Bergen sein. - Wohin strebt mein Geist? Nam dies noctesque crescit et ardet malum, quod vehementer me sollicitat: Labores meos subire et deos donis colere mihi non iam libet, sed semper in silvis montibusque esse volo. – Quo petit animus meus?
Nutrix: Eine wie verzweifelte Frau höre ich? Was, du Arme, willst du mit deinen Worten sagen? Was ist denn dieses Übel? NUTRIX1: Quam mulierem desperatam audio? Quid, misera, verbis tuis dicere vis? Quidnam illud malum est?
P.: In Liebe zu Hippolyt bin ich entflammt. - Habe ich genug gesagt? PHAEDRA: Amore Hippolyti incensa sum. – Satisne dixi?
N.:Wen liebst du? Beschämt dich dies nicht? Hippolyt ist wie dein Sohn. Du gibst dich schändlicher Hoffnung hin. Lösche aus, berühmte Frau des Theseus, die Flammen der Liebe! Zögerst du etwa? Willst du etwa deiner Liebe nachgeben? NUTRIX: Quem amas? Nonne id te pudet? Hippolytus quasi filius tuus est! Te spei turpi dedis! Exstingue, Thesei clara coniunx, flammas amoris! Num dubitas? Num amori tuo cedere vis?
P.: Die Sache ist so, wie du gesagt hast. Ich bin nicht von einer leichten Liebe erfasst. Ich jedenfalls kann die Flammen der Liebe in meinem Geist nicht auslöschen. In dieser Angelegenheit (über diese Sache) habe ich jede Hoffnung verloren (abgelegt). Welcher Gott wird die Liebe löschen? PHAEDRA: Res ita est, ut dixisti. Amore non levi capta sum. Equidem flammas amoris in animo meo exstinguere non possum2. De ea re omnem spem deposui. Qui deus amorem exstinguet?
N.: Du musst die Hoffnung auf Heilung in deine Tugend legen! Andernfalls werden uns widrige Dinge zustossen. NUTRIX: Spem salutis in virtute tua ponere debes! Aliter res adversae nobis accident.
P.: Ich weiß, dass das wahr ist, aber - wem gibst du diesen guten Rat. Mir fehlt der Verstand: Der Wahnsinn hat mich besiegt und lenkt mich. PHAEDRA: Id verum esse scio, sed – cui ea bona consilia das? Mihi ratio deest: Furor me vicit et regit.

1 nûtrîx Amme - 2 possum ich kann


31 Z So benimmt sich keine Römerin

Im 1. Jh. v. Chr. hat man in der römischen Gesellschaft viel über die Lebensweise der Patrizierin Clodia gelästert, die angeblich ein Verhältnis mit einem jüngeren Mann aus der Nachbarschaft, einem gewissen Cälius, hatte. Dieses Gerücht benutzt auch der Redner Cicero, um den politischen Einfluss der Clodia zu schwächen. In einer Rede vor Gericht wendet Cicero dazu folgenden Trick an: Das Publikum soll sich vorstellen, mit welchen Worten Clodia von ihrem eigenen Bruder beschimpft und erniedrigt werden könnte:

"Was machst du so einen Aufruhr, Schwester? Was gibst du dich dem Wahnsinn hin? „Quid facis tumultum1 , soror? Quid furori te dedis?
Was erhebst du für ein Geschrei und machst mit vielen Worten aus einer kleinen eine große Sache? Quid clamorem tollis et multis verbis parvam2 rem magnam facis?
Einen Jüngling hast du gesehen; der schöne Körper und seine Augen haben dich gerührt; immer wolltest du ihn sehen. Adulescentem aspexisti; corpus pulchrum et oculi te tetigerunt; semper eum videre voluisti.
Willst du nun, edle Frau, diesen Sohn eines sparsamen Vaters durch deine Schätze fesseln? Visne nunc tu, nobilis mulier, illum filium patris parci3 tuis opibus vincire4 ?
Pass auf: dies wird dir nicht zuteil werden; jener wird dich zurückweisen und er wird nicht glauben, dass deine Geschenke so viel wert sind. Cave: Id tibi non continget; ille te repellet neque tua dona tanti5 esse putabit.
Warum kehrt deine Vernunft nicht zurück? Ich beschwöre dich: Du hast am Tiber einen Garten, in dem alle jungen Männer zusammenkommen. Dort wirst du viele Jünglinge, viele neue Liebschaften finden. Cur mens tua nunc non redit? Obsecro te: Habes ad Tiberim hortos 6 , quo omnes iuvenes conveniunt; ibi multos iuvenes, multos amores novos invenies.
Warum bedrängst du diesen dich in keiner Weise begehrenden Jüngling? Cur hunc adulescentem nullo modo te cupientem premis?“

1 tumultus Tumult, Aufruhr – 2 parvam rem magnam facere „aus einer Mücke einen Elefanten machen“ – 3 parcus sparsam – 4 vincîre: zu vinculum – 5 tantî esse so viel wert sein – 6 hortus Garten, Park