Hebr 1

In den ältesten Handschriften trägt der Brief die Überschrift »An die Hebräer«, das heißt an Judenchristen. Eine Verfasserangabe fehlt, ebenso die Angabe der Adressaten. Da das Schreiben paulinischen Einfluss aufweist (siehe auch den Hinweis auf Timotheus 13,23), wurde früher vermutet, es stamme, wenn nicht von Paulus selbst, von einem Mitarbeiter des Paulus, etwa von Barnabas oder von Apollos (Apg 13,1 - 15,35; 18,24 - 19,1; 1 Kor 1,12; 3,4). Dies lässt sich jedoch nicht nachweisen. Wegen des ausgezeichneten griechischen Stils, der eingehenden Kenntnis des Alten Testaments und der jüdisch beeinflussten Denk- und Darstellungsweise ist als Verfasser ein griechisch gebildeter Judenchrist anzunehmen, der von paulinischen Gedanken beeinflusst ist.

Der Brief ist am frühesten in Rom durch den 1. Klemensbrief (abgefasst um 97 n. Chr.) bezeugt; die Notiz 13,24 (»Es grüßen euch die Brüder aus Italien«) verweist ebenfalls eher auf Rom als auf Kleinasien als Entstehungsort. Da der Verfasser auf die apostolische Zeit zurückblickt (13,7: »Schaut auf das Ende des Lebens eurer Vorsteher«), zugleich auf eine bevorstehende Verfolgung hinweist Kaiser Domitian (81-96 n. Chr.) ließ die Christen im ganzen Römischen Reich verfolgen -, sind als Zeit der Abfassung etwa die Jahre 85-95 n. Chr. anzunehmen.

Das Schreiben weist folgende Gliederung auf: Gottes abschließende Offenbarung durch den Sohn (1,1 - 4,13); Jesus Christus, der vollkommene und endgültige Hohepriester des Volkes Gottes, der durch seinen Tod volle Sühne bewirkt, den Neuen Bund heraufgeführt und den Zugang zu Gott geöffnet hat (4,14 - 10,18); das wandernde Gottesvolk auf dem Weg zu der von Gott geschenkten Ruhe (11,1 - 12,3); abschließende Ermahnungen an müde gewordene Christen (12,4 - 13,19); Grüße und Segenswünsche (13,20-25).

Für seine Darlegungen schöpfte der Verfasser aus dem griechischen Alten Testament (Septuaginta) sowie aus jüdischen und christlichen Überlieferungen. So schuf er ein seelsorgliches »Mahnschreiben« (13,22) an Christen, die in Gefahr sind, vom Glauben abzufallen. Ihnen zeigt er, dass Jesus ebenso wie alle Großen des Volkes Gottes für seine Überzeugung auch zu leiden hatte und dass sich erst im Leiden die Kraft des Glaubens und der Hoffnung bewährt. Wie Jesus Christus kann auch der Christ nur durch Leiden in das Reich Gottes gelangen. Im Mittelpunkt steht die Aussage über Jesus als den allein würdigen Hohenpriester nach der Art des Priesterkönigs Melchisedek (vgl. die Anmerkung zu 7,1-28). Jesus hat durch das Opfer seines Lebens eine umfassende Erlösung bewirkt und tritt vor Gott als Fürsprecher für die Kirche ein. In ihm ist das alttestamentliche Priestertum an sein Ziel und Ende gelangt.

Das Schreiben bietet Einblick in den Reichtum christlichen Denkens und Lebens am Ende des ersten christlichen Jahrhunderts. Von besonderem Gewicht ist die Mahnung, Jesus Christus auch in Widrigkeiten unbedingt treu zu bleiben.

Der Sohn als Erfüllung der Verheißungen Gottes: 1,1 - 4,13

Der Sohn und die Engel: 1,1-14

1 Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten; 1
2 in dieser Endzeit aber hat er zu uns gesprochen durch den Sohn, den er zum Erben des Alls eingesetzt und durch den er auch die Welt erschaffen hat;
3 er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens; er trägt das All durch sein machtvolles Wort, hat die Reinigung von den Sünden bewirkt und sich dann zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt; 2
4 er ist um so viel erhabener geworden als die Engel, wie der Name, den er geerbt hat, ihren Namen überragt. 3

5 Denn zu welchem Engel hat er jemals gesagt: Mein Sohn bist du, /
 
heute habe ich dich gezeugt, und weiter: Ich will für ihn Vater sein, /
 
und er wird für mich Sohn sein? 4

6 Wenn er aber den Erstgeborenen wieder in die Welt einführt, sagt er: Alle Engel Gottes sollen sich vor ihm niederwerfen. 5

7 Und von den Engeln sagt er: Er macht seine Engel zu Winden /
 
und seine Diener zu Feuerflammen; 6

8 von dem Sohn aber: Dein Thron, o Gott, steht für immer und ewig, und: Das Zepter seiner Herrschaft ist ein gerechtes Zepter. 7

9 Du liebst das Recht und hasst das Unrecht, /
 
darum, o Gott, hat dein Gott dich gesalbt /
 
mit dem Öl der Freude wie keinen deiner Gefährten.

10 Und: Du, Herr, hast vorzeiten der Erde Grund gelegt, /
 
die Himmel sind das Werk deiner Hände. 8

11 Sie werden vergehen, du aber bleibst; /
 
sie alle veralten wie ein Gewand;

12 du rollst sie zusammen wie einen Mantel /
 
und wie ein Gewand werden sie gewechselt. Du aber bleibst, der du bist, /
 
und deine Jahre enden nie.

13 Zu welchem Engel hat er jemals gesagt: Setze dich mir zur Rechten, /
 
und ich lege dir deine Feinde als Schemel unter die Füße? 9

14 Sind sie nicht alle nur dienende Geister, ausgesandt, um denen zu helfen, die das Heil erben sollen?

1 1-2,18: Das kunstvoll gestaltete Vorwort (1,1-4) und die anschließenden Zitate aus dem Alten Testament legen dar, dass Jesus als der Sohn Gottes die Engel an Bedeutung weit übertrifft; daher ist auch der von ihm gestiftete Bund dem Alten Bund, der nach jüdischer Auffassung durch Engel vermittelt wurde (vgl. Apg 7,53; Gal 3,19: über das Gesetz), weit überlegen.
2 ℘ 2 Kor 3,18; Kol 1,15; Joh 1,3; Kol 1,17; Ps 110,1
3 ℘ Phil 2,9
4 ℘ Ps 2,7; 2 Sam 7,14
5 ℘ Dtn 32,43 G; Ps 97,7 G
6 ℘ Ps 104,4 G
7 ℘ Ps 45,7f G
8 ℘ Ps 102,26-28
9 ℘ Ps 110,1