Das Hohelied, wörtlich übersetzt »Das Lied der Lieder«, d. h. »Das schönste Lied«, besingt in einer Folge von Gedichten die Liebe von Mann und Frau, die sich verbinden, sich verlieren, sich suchen und finden. Ähnlich wie das Buch der Sprichwörter und Kohelet gehört es zur Weisheitsliteratur und wird nach der Überlieferung König Salomo zugeschrieben. In der jüdischen Liturgie wurde es die Festrolle für das Paschafest (vgl. die Einleitung zu Rut). Als im 1. Jahrhundert n. Chr. in jüdischen Kreisen Zweifel an seiner kanonischen Geltung erhoben wurden, löste man sie durch die Berufung auf die Tradition. Die Kirche hat das Hohelied immer als Teil der Heiligen Schrift betrachtet.
Bei keinem alttestamentlichen Buch klaffen die Auslegungen so weit auseinander wie hier. Neben der neuen Meinung, das Hohelied entstamme dem Kult der Fruchtbarkeitsgöttin Astarte und übertrage den im Alten Orient weit verbreiteten Ritus der heiligen Hochzeit auf die Jahwe-Verehrung, nimmt die Auffassung zu, es handle sich bei diesem Buch um eine realistische Darstellung und Verherrlichung der ehelichen Liebe (vgl. die Aussage von Gen 2,24). Der »Sitz im Leben« wäre dann eine israelitische Hochzeitsfeier. Dafür sprechen die sogenannten Beschreibungslieder (4,1-7; 5,10-16; 7,2-10), die die Schönheit von Braut und Bräutigam preisen.
Älter ist jedoch die allegorische Auslegung: Die Liebe Gottes zu seinem Volk wird dargestellt unter dem Bild der Liebe zwischen Eheleuten (vgl. Hos 1 - 3). Von den christlichen Schriftstellern wurde später das Hohelied auf die Verbindung Christi mit der Kirche oder auf die mystische Einheit der Seele mit Gott ausgedeutet.
Der Verfasser des Hohelieds verfügt über ursprüngliche dichterische Kraft und ist ein guter Kenner der Heiligen Schrift. Vielleicht ist die Form seiner Lieder von Ägypten her beeinflusst. Ähnlich wie in den ägyptischen Liebesliedern ist kein Aufbauplan festzustellen. Wegen sprachlicher Eigentümlichkeiten (Aramaismen, ein persisches Wort in 4,13, ein griechisches Wort in 3,9) ist wohl an nachexilische Abfassungszeit in Palästina zu denken. Mit Blick auf die biblische Theologie ist neben der Deutung auf die gottgewollte eheliche Gemeinschaft die Auslegung auf die Verbindung Christus und Kirche durchaus zu rechtfertigen. Dafür spricht vor allem das Gewicht der Tradition.
1 Das Hohelied Salomos.
2 Mit Küssen seines Mundes bedecke er mich. /
Süßer als Wein ist deine Liebe.
1
3 Köstlich ist der Duft deiner Salben, /
dein Name hingegossenes Salböl; /
darum lieben dich die Mädchen.
4 Zieh mich her hinter dir! Lass uns eilen! /
Der König führt mich in seine Gemächer. Jauchzen lasst uns, deiner uns freuen, /
deine Liebe höher rühmen als Wein. /
Dich liebt man zu Recht.
2
5 Braun bin ich, doch schön, /
ihr Töchter Jerusalems, wie die Zelte von Kedar, /
wie Salomos Decken.
3
6 Schaut mich nicht so an, /
weil ich gebräunt bin. /
Die Sonne hat mich verbrannt. Meiner Mutter Söhne waren mir böse, /
ließen mich Weinberge hüten; /
den eigenen Weinberg konnte ich nicht hüten.
7 Du, den meine Seele liebt, /
sag mir: Wo weidest du die Herde? /
Wo lagerst du am Mittag? Wozu soll ich erst umherirren /
bei den Herden deiner Gefährten?
4
8 Wenn du das nicht weißt, /
du schönste der Frauen, dann folge den Spuren der Schafe, /
dann weide deine Zicklein /
dort, wo die Hirten lagern.
9 Mit der Stute an Pharaos Wagen /
vergleiche ich dich, meine Freundin.
10 Schön sind deine Wangen zwischen den Kettchen, /
dein Hals in der Perlenschnur.
11 Machen wir dir noch goldene Kettchen, /
kleine Silberkugeln daran.
12 Solange der König an der Tafel liegt, /
gibt meine Narde ihren Duft.
5
13 Mein Geliebter ruht wie ein Beutel mit Myrrhe /
an meiner Brust.
14 Eine Hennablüte ist mein Geliebter mir /
aus den Weinbergen von En-Gedi.
15 Schön bist du, meine Freundin, /
ja, du bist schön. /
Zwei Tauben sind deine Augen.
16 Schön bist du, mein Geliebter, verlockend. /
Frisches Grün ist unser Lager,
17 Zedern sind die Balken unseres Hauses, /
Zypressen die Wände.