Das Buch Kohelet wurde um die Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. geschrieben. Der Verfasser, der sich selbst Kohelet nennt, ist uns nicht bekannt. Palästina gehörte damals zum Ptolemäerreich. Es war die Zeit noch vor den hellenistischen Religionsverfolgungen und vor der nationalen Erhebung der Makkabäer. Die gebildete Oberschicht von Judäa war wohlhabend und weltoffen. Man versuchte, die Traditionen Israels mit der die Welt beherrschenden griechischen Bildung und Lebensform zu einer neuen Einheit zu verschmelzen.
Das Buch Kohelet ist das eindrucksvollste Zeugnis dieses Bemühens. Die Bildungstraditionen Israels, ja des ganzen Orients, besonders auch Ägyptens, sind Kohelet bekannt (zur »Weisheit« vgl. die Einleitung zu Spr). Sein Denken und Fühlen ist von den Schriftstellern, die man in den griechischen Schulen liest, und von der sogenannten Popularphilosophie bestimmt. Seine Sprache ist ein ganz neuartiges Hebräisch, in dem einerseits die aramäische Alltagssprache, andererseits manches griechische Wort- und Satzmuster durchschlägt. Das Buch lehnt sich nur noch teilweise an die poetische Gestalt der alten Lehrschriften an. Es enthält auch schon viele Merkmale der damals aufkommenden Predigt von Wanderphilosophen (»Diatribe«).
Das Buch entwirft zunächst eine Lehre vom Kosmos (1,4-11). Der herrliche, ewig kreisende Kosmos ist die Bühne, auf der die vergänglichen Menschen kommen und gehen. Sprache, Sinne und Gedächtnis der Menschen können die Fülle der Welt nicht erfassen. Es folgt als grundlegender Teil des Buches die Lehre vom Menschen (1,12 - 3,15). Kohelet versetzt sich in die höchste menschliche Möglichkeit: Er sieht sich als gebildeten, weltgestaltenden und das Leben voll auskostenden Herrscher und fragt dann nach dem Sinn. Angesichts des sicher kommenden Todes erweist sich selbst dann alles als »Windhauch«. Jeder Augenblick ist von Gott her bestimmt; der Mensch kann ihn weder berechnen noch in den Griff bekommen. Er kann nur in Furcht das, was ihm jeweils gegeben wird, annehmen. Dieses Daseinsverständnis bestätigt sich dann in einem anschließenden Teil, der die Übel der Welt anhand ausgewählter Beispiele aus dem öffentlichen, wirtschaftlichen und familiären Leben kritisiert (3,16 - 6,10). Im nächsten Teil werden Beispiele traditioneller Spruchweisheit und die weisheitliche Theorie über den Zusammenhang von Tun und Ergehen kritisch überprüft (6,11 - 9,6). Am Ende steht wieder das Thema Tod. Daran schließt sich die Ethik an, die Weisung für die rechte Lebensführung (9,7 - 12,7). Sie ist sehr vielfältig, doch ist sie geleitet von der Mahnung, in Gottesfurcht die Gabe des jeweiligen Augenblicks zu ergreifen: jede Freude zu genießen und überall da, wo es sich anbietet, tatkräftig zu handeln. Denn jedes »Jetzt« ist die dem Menschen gegebene Zeit. Er soll nie vergessen, dass er auf Alter und Tod zugeht. Aus dieser Ethik sind die Anweisungen über das religiöse Verhalten herausgenommen und schon vorher als eine Art Zwischenstück in die Gesellschaftskritik eingesetzt (4,17 - 5,6). So bilden sie im Gesamtaufbau des Buches eine Art Mitte.
Im modernen Denken wird man mit dem Buch Kohelet vor allem die Existenzphilosophie vergleichen können. Doch ist im Buch Kohelet bei aller Neigung zur Erfahrungsweisheit und zur kritischen Auseinandersetzung mit gängigen Meinungen zugleich eine sehr radikale Theorie von der Bindung der Welt an Gott vorausgesetzt. Nach ihr kann nichts, auch nicht das Böseste und Schlimmste, von der Allursächlichkeit Gottes ausgenommen werden. Und von Gott her ist letztlich alles »schön«. Dies sollte man nicht übersehen, wenn man beim Lesen des Buches von Melancholie überwältigt wird und Kohelet gerade deshalb als modern empfinden möchte. Wer Kohelet als Teil des ganzen Kanons der heiligen Schriften liest, wird das Buch, ohne dabei die Härte seines Fragens und Denkens preiszugeben, mit der Botschaft vom Handeln Gottes in der Geschichte verbinden.
Buchtitel: 1,1
1 Worte Kohelets, des Davidsohnes, der König in Jerusalem war.
1
Vorspruch: 1,2-3
2 Windhauch, Windhauch, sagte Kohelet, Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch.
2
3 Welchen Vorteil hat der Mensch von all seinem Besitz, für den er sich anstrengt unter der Sonne?
34
Wechsel, Dauer und Vergessen: 1,4-11
4 Eine Generation geht, eine andere kommt. /
Die Erde steht in Ewigkeit.
5
5 Die Sonne, die aufging und wieder unterging, /
atemlos jagt sie zurück an den Ort, wo sie wieder aufgeht.
6
6 Er weht nach Süden, dreht nach Norden, dreht, dreht, weht, der Wind. /
Weil er sich immerzu dreht, kehrt er zurück, der Wind.
7 Alle Flüsse fließen ins Meer, /
das Meer wird nicht voll. Zu dem Ort, wo die Flüsse entspringen, /
kehren sie zurück, um wieder zu entspringen.
8 Alle Dinge sind rastlos tätig, /
kein Mensch kann alles ausdrücken, nie wird ein Auge satt, wenn es beobachtet, /
nie wird ein Ohr vom Hören voll.
78
9 Was geschehen ist, wird wieder geschehen, /
was man getan hat, wird man wieder tun: /
Es gibt nichts Neues unter der Sonne.
910
10 Zwar gibt es bisweilen ein Ding, von dem es heißt: /
Sieh dir das an, das ist etwas Neues - /
aber auch das gab es schon in den Zeiten, die vor uns gewesen sind.
11
11 Nur gibt es keine Erinnerung an die Früheren /
und auch an die Späteren, die erst kommen werden, auch an sie wird es keine Erinnerung geben /
bei denen, die noch später kommen werden.
12
Die Bedingtheit des Menschen - die Undurchschaubarkeit Gottes: 1,12 - 3,15
Drei Überblicke: 1,12 - 2,2
12 Ich, Kohelet, war in Jerusalem König über Israel.
13
13 Ich hatte mir vorgenommen, das Wissen daraufhin zu untersuchen und zu erforschen, ob nicht alles, was unter dem Himmel getan wurde, ein schlechtes Geschäft war, für das die einzelnen Menschen durch Gottes Auftrag sich abgemüht haben.
14
14 Ich beobachtete alle Taten, die unter der Sonne getan wurden. Das Ergebnis: Das ist alles Windhauch und Luftgespinst.
1516
15 Was krumm ist, kann man nicht gerade biegen; /
was nicht da ist, kann man nicht zählen.
17
16 Ich überlegte mir Folgendes: Ich habe mein Wissen immerzu vergrößert, sodass ich jetzt darin jeden übertreffe, der vor mir über Jerusalem geherrscht hat. Oft konnte ich Wissen und Können beobachten.
18
17 So habe ich mir vorgenommen zu erkennen, was Wissen wirklich ist, und zu erkennen, was Verblendung und Unwissen wirklich sind. Ich erkannte, dass auch dies ein Luftgespinst ist.
19
18 Denn: Viel Wissen, viel Ärger, /
wer das Können mehrt, der mehrt die Sorge.
20