Sir 1

Als Verfasser des Buches wird in 50,27 und 51,30 ein Weisheitslehrer namens »Jesus, Sohn Eleasars, des Sohnes Sirachs« genannt. Die hebräisch-jüdische Bezeichnung des Buches lautet kurz Ben Sira; die griechische Bibel nennt es Siracides, die lateinische Liber Ecclesiasticus. Nach dem Vorwort des griechischen Übersetzers, eines Enkels des Verfassers, kommen als Abfassungszeit die Jahre um 180 v. Chr. in Betracht; Abfassungsort ist Jerusalem (vgl. die Anmerkung zu 50,27b).

Inhaltlich handelt es sich um eine lockere Sammlung von Lebensund Verhaltensregeln, mit denen sich der Verfasser vor allem an die Jugend wendet, um sie für die Aufgaben und Schwierigkeiten des Lebens zu erziehen. Das Werk ist vom Buch der Sprichwörter abhängig, unterscheidet sich aber von diesem dadurch, dass es die weisheitlichen Themen mehr zusammenhängend und oft in Gegensatzpaaren behandelt: Weisheit und Torheit, Armut und Reichtum, Zucht und Zuchtlosigkeit, Gesundheit, Krankheit und Tod, Sklaven und Herren, Freunde und Frauen. Haupttugend ist immer die Gottesfurcht (Kap. 1). Etwa die Mitte und den Höhepunkt des ganzen Buches bildet der Weisheitshymnus in Kap. 24. Nach der frommen Naturbetrachtung von 42,15 - 43,33 folgt als letztes Thema das »Lob der Väter« (44,1 - 50,24), ein kurzer Überblick über die alttestamentliche Heilsgeschichte.

Der Verfasser verbindet harmonisch die Treue zum althergebrachten Glauben mit der Offenheit für die Probleme seiner Zeit. Den Hellenismus, der auch in jüdischen Kreisen mehr und mehr Eingang findet, bekämpft er nicht, so weit er sich mit der jüdischen Religion vereinbaren lässt. Das mosaische Gesetz weitet sich bei ihm zur göttlichen Schöpfungsordnung, die für alle Zeiten Wert und Gültigkeit besitzt. So bietet das Buch Jesus Sirach über die Zeit des damaligen kulturellen Umbruchs hinaus humane und sittlich-religiöse Leitsätze für den Weg zu echter Weisheit.

Als spätes Werk fand dieses Buch keine Aufnahme mehr in den jüdischen Kanon. Die Kirche übernahm es wie die anderen deuterokanonischen Bücher als Heilige Schrift. Im Neuen Testament, besonders im Jakobusbrief, sowie in den frühchristlichen Schriften stehen zahlreiche Anspielungen oder sogar Zitate aus dem Buch Jesus Sirach. Hieronymus behauptet, er habe den hebräischen Text noch gekannt. Später war das Buch jedoch nur noch in den alten Übersetzungen vorhanden. In diesen lassen sich viele erklärende und erweiternde Zusätze nachweisen. Im Jahr 1896 und in der folgenden Zeit wurden fünf hebräische Handschriftenfragmente aus dem 11. oder 12. Jh. n. Chr., die aus einem Abstellraum (»Genisa«) der Synagoge in Alt-Kairo stammen, entdeckt, sodass seither etwa zwei Drittel des hebräischen Textes bekannt sind. Aber auch diese hebräischen Fragmente enthalten einen Text, der Zusätze und Wiederholungen aufweist. Offenbar hat man schon im ersten vorchristlichen und bis ins zweite nachchristliche Jahrhundert den griechischen wie den hebräischen Text der zeitgenössischen Denk- und Sprechweise angepasst. Nahe an die Zeit des Verfassers reichen einige wertvolle, freilich nur kurze hebräische Fragmente heran, die neuestens in Qumran (6,20-31; 51,12-20) und in Masada (39,27 - 44,17 mit Lücken) ans Licht kamen.

Das Vorwort zur griechischen Übersetzung

1//5 Vieles und Großes ist uns durch das Gesetz, die Propheten und die anderen Schriften, die ihnen folgen, geschenkt worden. Dafür ist Israel zu loben wegen seiner Bildung und Weisheit. Doch soll jeder, der sie zu lesen versteht, nicht nur sich selbst daran bilden, sondern die Gelehrten sollen auch imstande sein, andere durch Wort und Schrift zu fördern.
1//6 So befasste sich mein Großvater Jesus sorgfältig mit dem Gesetz, mit den Propheten und mit den anderen von den Vätern überkommenen Schriften. Er verschaffte sich eine gründliche Kenntnis von ihnen und fühlte sich dann gedrängt, auch selbst etwas zu schreiben, um dadurch Bildung und Weisheit zu fördern. Wer es sich mit Liebe aneignet, wird es in einem gesetzestreuen Leben noch vermehren. Ihr seid nun aufgefordert, mit Wohlwollen und Aufmerksamkeit zu lesen. Doch mögt ihr Nachsicht üben, wenn wir vielleicht einige der schwer zu übersetzenden Ausdrücke unbefriedigend wiedergegeben haben. Es ist ja nicht gleich, ob man etwas in der hebräischen Grundsprache liest oder ob es in eine andere Sprache übertragen wird. Nicht nur dieses Buch, sondern auch das Gesetz, die Propheten und die übrigen Schriften weisen keinen geringen Unterschied auf, wenn man sie in der Grundsprache liest.
1//7 Ich kam im achtunddreißigsten Jahr des Königs Euergetes nach Ägypten und hielt mich dort eine Zeit lang auf. Da ich dort eine ähnlich hohe Bildung vorfand, habe ich es für notwendig gehalten, auch selbst Fleiß und Mühe aufzuwenden, um dieses Buch zu übersetzen. Inzwischen habe ich mit rastlosem Eifer und mit Sachkenntnis das Werk abgeschlossen, um es für jene herauszugeben, die sich auch in der Fremde weiterbilden wollen und sich vorgenommen haben, nach dem Gesetz zu leben. 1

Erziehung zur Weisheit: 1,1 - 4,19

Die Quelle der Weisheit: 1,1-10

1 Alle Weisheit stammt vom Herrn /
 
und ewig ist sie bei ihm. 2

2 Den Sand des Meeres, die Tropfen des Regens /
 
und die Tage der Vorzeit, wer hat sie gezählt?

3 Die Höhe des Himmels, die Breite der Erde /
 
und die Tiefe des Meeres, wer hat sie gemessen?

4 Früher als sie alle ist die Weisheit erschaffen, /
 
von Ewigkeit her die verständige Einsicht.

5 []
3
ihre Wege sind die ewigen Gebote. 7 Die Kenntnis der Weisheit, wem wurde sie offenbart? Ihre mannigfachen Wege, wer hat sie erkannt?

6 Die Wurzel der Weisheit - wem wurde sie enthüllt, /
 
ihre Pläne - wer hat sie durchschaut?

7 []

8 Nur einer ist weise, höchst Ehrfurcht gebietend: /
 
der auf seinem Thron sitzt, der Herr.

9 Er hat sie geschaffen, geschaut und gezählt, /
 
sie ausgegossen über all seine Werke.

10 Den Menschen ist sie unterschiedlich zugeteilt; /
 
er spendet sie denen, die ihn fürchten. 4

Die Krone der Weisheit: 1,11-20

11 Die Gottesfurcht ist Ruhm und Ehre, /
 
Hoheit ist sie und eine prächtige Krone.

12 Die Gottesfurcht macht das Herz froh, /
 
sie gibt Freude, Frohsinn und langes Leben. 5

13 Dem Gottesfürchtigen geht es am Ende gut, /
 
am Tag seines Todes wird er gepriesen. 6

14 Anfang der Weisheit ist die Gottesfurcht, /
 
den Glaubenden ist sie angeboren. 7

15 Bei den Frommen hat sie einen dauernden Wohnsitz /
 
und bei ihren Nachkommen wird sie bleiben.

16 Fülle der Weisheit ist die Gottesfurcht, /
 
sie labt die Menschen mit ihren Früchten.

17 Ihr ganzes Haus füllt sie mit Schätzen an, /
 
die Speicher mit ihren Gütern. 8

18 Krone der Weisheit ist die Gottesfurcht, /
 
sie lässt Heil und Gesundheit sprossen.

19 Verständnis und weise Einsicht gießt sie aus, /
 
sie erhöht den Ruhm aller, die an ihr fest halten. 910

20 Wurzel der Weisheit ist die Gottesfurcht, /
 
ihre Zweige sind langes Leben.

Der Feind der Weisheit: 1,21-30

21 Die Gottesfurcht hält Sünden fern, /
 
wer in ihr verbleibt, vertreibt allen Zorn.

22 Ungerechter Zorn kann nicht Recht behalten, /
 
wütender Zorn bringt zu Fall.

23 Der Geduldige hält aus bis zur rechten Zeit, /
 
doch dann erfährt er Freude.

24 Bis zur rechten Zeit hält er mit seinen Worten zurück, /
 
dann werden viele seine Klugheit preisen.

25 In den Kammern der Weisheit liegen kluge Sinnsprüche, /
 
doch dem Sünder ist die Gottesfurcht ein Gräuel.

26 Begehrst du Weisheit, so halte die Gebote /
 
und der Herr wird dir die Weisheit schenken.

27 Denn die Gottesfurcht ist Weisheit und Bildung, /
 
an Treue und Demut hat Gott Gefallen. 11

28 Sei nicht misstrauisch gegen die Gottesfurcht /
 
und nahe ihr nicht mit zwiespältigem Herzen!

29 Sei kein Heuchler vor den Menschen /
 
und hab Acht auf deine Lippen!

30 Überhebe dich nicht, damit du nicht fällst /
 
und Schande über dich bringst; sonst enthüllt der Herr, was du verbirgst, /
 
und bringt dich zu Fall inmitten der Gemeinde, weil du dich der Gottesfurcht genaht hast, /
 
obwohl dein Herz voll Trug war. 1213

1 Vorwort: Für die Datierung ist die Angabe wichtig, dass der Enkel im 38. Jahr des Königs Euergetes (170-111 v. Chr.) nach Ägypten kam, also 132 v. Chr. Er wird um 152 v. Chr. geboren sein. Dann ist sein Vater vermutlich um 182 v. Chr. geboren. Der Verfasser schrieb wahrscheinlich in fortgeschrittenem Alter, wohl nicht vor 180 v. Chr.
2 ℘ Spr 2,6; Weish 7,25
3 1,5.7: sind spätere Zusätze, sie lauten: 5 Die Quelle der Weisheit ist das Wort Gottes in der Höhe; /
4 10b: So mit einigen Textzeugen und nach dem Zusammenhang; die meisten G-Handschriften: die ihn lieben.
5 ℘ Spr 4,10
6 ℘ 11,28
7 ℘ Spr 1,7; Ps 111,10
8 ℘ Spr 8,18f
9 ℘ Spr 4,8
10 19a: Oder mit S: Sie ist ein starker Stab und eine herrliche Stütze.
11 ℘ Spr 15,33
12 ℘ Spr 16,18
13 So mit S. - Vg zählt in Kap. 1 40 Verse.